Vom Weberbastl zum Weltstar

Kneipp-Aktuell
Die Bezeichnung „Kneippen“ steht heute als Inbegriff der sogenannten Wasserkur oder des Wassertretens. Namensgeber ist der Pfarrer Sebastian Kneipp, der die Hydrotherapie im 19. Jahrhundert maßgeblich entwickelte. Als Spinner verlacht, als Kurpfuscher von der Ärzteschaft vor Gericht gezerrt, setzte seine Methode sich doch allmählich durch und genießt heute weltweite Anerkennung. Vielleicht sollte man es einmal selbst versuchen, meint Hausarzt Martin Glauert. Dann aber am besten dort, wo alles begann.

Erschienen in 'Der Allgemeinarzt' 4-2015

Eine dunkle Gestalt hastet in der Winternacht am Ufer entlang. Ihr Gesicht glüht vom Fieber. Sie bleibt stehen, schaut sich kurz um, zögert einen winzigen Augenblick. Dann wirft sie den weiten Mantel ab und steigt unbemerkt in die eiskalte Donau. Schon wenige Sekunden später aber taucht sie wieder aus den Wellen auf, schlüpft in ihr Gewand und verschwindet in der Dunkelheit, wie sie gekommen ist. Es ist kein Selbstmörder, den der Mut verlassen hat, sondern Sebastian Kneipp, Student der Theologie, lebensbedrohlich erkrankt an Lungentuberkulose. Die Ärzte haben ihn schon aufgegeben, da fällt ihm ein Büchlein über die Heilkraft des Wassers in die Hände. Er hat nichts mehr zu verlieren, mit dem Mut der Verzweiflung unternimmt er nun die geheimnisvollen nächtlichen Bäder. Und siehe da, das Fieber sinkt, von Tag zu Tag kehren die Kräfte zurück, der Junge wird schließlich ganz gesund. Viele Jahre später, längst ist er als Kaplan mit der Leitung eines Klosters betraut, erinnert sich Kneipp an dieses Erlebnis und wendet die Wasserkur bei Kranken an.

In Heublumen verpackt

Die eiserne Pforte öffnet sich auf unser Klingeln. Die Dame am Empfang ist freundlich, aber deutlich. „Dies ist kein Wellness, sondern echte Kneippkur“, erklärt sie dem Ankömmling. Was damit gemeint ist, wird schon bald klar.

Nachts um 4 Uhr öffnet sich lautlos die Zimmertür und ein dienstbarer Geist huscht herein. Eine warme, wohlriechende Heublumenpackung schiebt er dem schlaftrunkenen Kurgast in den Rücken, wickelt ein Laken um den Leib und ist auch schon wieder verschwunden. Man fällt zurück in den Schlaf und träumt, man läge auf einer Blumenwiese in der Sonne. Dann klingelt der Wecker. Der erste Streif des Morgen-rotes wird am Horizont sichtbar – Zeit für die Frühgymnastik! Geleitet wird sie von Frau Frischauf, und ihr Name ist Programm. Mit kernigen Sprüchen und klaren Kommandos bringt sie die noch bettschwere Gruppe auf Trab. Schwäche wird nicht geduldet. Hinaus geht es danach zum Tautreten in den Klostergarten.

Das Wasser lässt ihn nicht los

Am 2. Mai 1855 kam Sebastian Kneipp als Beichtvater in das Kloster Wörishofen. Er hatte einen klaren Auftrag: Neben der Seelsorge für Nonnen und Gemeinde sollte er das bankrotte Kloster wirtschaftlich wieder auf Vordermann bringen. Einen Besseren hätte man für diese Aufgabe kaum finden können. Kneipp war kein abgehobener Theologe, sondern ein Mann des Volkes. Der Sohn bitterarmer Weber aus dem Allgäu musste schon früh mit anpacken. Jetzt ist er sich nicht zu schade, auf Viehmärkte zu fahren und höchstpersönlich Kühe für das Kloster auszusuchen. Er entwirft ein Entwässerungssystem für die nassen Wiesen, veredelt die Obstbäume und wird ein international anerkannter Imker.

Doch das Wasser lässt ihn nicht los. Den blassen Nonnen verordnet er Wassertreten, kranke Gemeindemitglieder behandelt er mit Güssen und Wickeln. Sein Ruf als „Wunderdoktor“ verbreitet sich in Windeseile. Einer der ersten Stammgäste wird Erzherzog Joseph von Österreich. Auf einem der ältesten Fotos sieht man vornehme Herrschaften mit Hut, Brille, Schnurrbart und Jackett – aber kurzen Hosen. Sie stehen in einem Bachlauf, bis zu den Knien im Wasser. Ein Knabe gießt mit einer Gießkanne zusätzlich kaltes Wasser über die Beine.

Jede Anwendung ist auch Zuwendung

Der Kelch geht an mir vorüber. Ich befinde mich in der Bäderabteilung des Klosters, seit 150 Jahren scheint die Zeit hier stillzustehen. In meiner Kabine steht eine Badewanne, in die eine Nonne einen Holzschemel stellt. Schwester Johanna ist 78 Jahre alt, ihre Stimme ist leise, der Händedruck weich und freundlich. Nach kurzer Befragung entscheidet sie sich gegen den Oberkörperguss, den „König der Güsse“, wie Kneipp ihn nannte. Stattdessen bin ich ein Kandidat für den Armguss. Im Stehen muss ich mich nun vornüber in die Badewanne beugen und auf dem Schemel abstützen. Dann werden die Arme nacheinander ganz langsam von unten nach oben bis zur Schulter mit warmem Wasser aus dem Schlauch abgeduscht, erst der rechte, dann der linke. Danach erfolgt die gleiche Prozedur, diesmal jedoch mit kaltem Wasser. „Schön durchschnaufen“, höre ich Schwester Johanna sagen, und tatsächlich bleibt mir kurz die Luft weg, weil das kalte Wasser für einen kleinen Schock sorgt. Vom Bücken bei der Anwendung ist der Kopf heiß geworden, deshalb gibt es noch eine kalte Gesichtsspülung. Danach aber tritt eine wohltuende Wärme im ganzen Körper ein. Gemäß Kneipp’scher Philosophie soll jede Anwendung auch Zuwendung sein. Das spürt man bei Schwester Johanna deutlich. Wenn sie den Guss verabreicht, scheint das Wasser besonders sanft zu fließen.

Selbst der Papst ist überzeugt

In seinen wenigen Mußestunden bringt Sebastian Kneipp seine Theorien zu Papier. „Meine Wasserkur“, 1886 erschienen, wird zum weltweiten Bestseller und in 17 Sprachen übersetzt. Aus dem „Weberbastl“ ist ein Weltstar geworden. Längst sind die Anfeindungen und Gerichtsverfahren gegen ihn wegen „Kurpfuscherei“, „Gewerbebeeinträchtigung und Schädigung“ vergessen. Heilsuchende aus ganz Europa treffen in Wörishofen ein. Adlige, Geschäftsleute und Berühmtheiten sind unter seinen Patienten. Ärzte kommen von weit her, um bei ihm zu hospitieren und die Heilmethode in Deutschland zu verbreiten. Vortragsreisen führen ihn durch ganz Europa. Ende 1893 lässt sich sogar Papst Leo XIII. von Kneipp behandeln und ernennt ihn zum Päpstlichen Geheimkämmerer.

Sebastian Kneipp steht auf der Höhe seines Erfolges, als sich im Sommer 1894 erste Anzeichen von Schwäche zeigen. Mit eiserner Selbstdisziplin arbeitet er weiter. Anfang 1897 jedoch ist er so geschwächt, dass er die Wassergüsse nicht mehr selbst vornehmen kann. Ein schnell wachsender Tumor im Unterleib wird diagnostiziert – Blasenkrebs. Die rettende Operation lehnt Kneipp ab, lässt sich lediglich mit Wasseranwendungen und Lehmwickeln behandeln. Die ärztlichen Bulletins, die täglich über den gesundheitlichen Zustand Kneipps abgefasst wurden, sind ergreifend zu lesen. In der letzten Eintragung vom 16. Juni 1897 heißt es lapidar: „Vormittag: Leib ist stark aufgetrieben. Puls 108. Respiration 24. Temperatur 36,5°“. Am folgenden Tag stirbt Sebastian Kneipp im Alter von 76 Jahren.

Martin Glauert

Erschienen in:
Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (4) Seite 72-75

21.04.2015
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Nicht viele Anwendungen heilen, sondern die rechten
Anwendungen und in der rechten Weise gemacht.